Not macht erfinderisch, sagt man. Aber stimmt es?

Ferne Vergangenheit

Manchmal male ich mir aus, wie die Domestizierung des Hundes abgelaufen sein könnte.

Szenario eins:

Der Hunger ist groß, ein Wolfsrudel hat dem Wildbeuterstamm mal wieder die Beutetiere vertrieben. Eisiger Wind sägt über die nahe Bergkette. Die Vorräte an Beeren sind nach dem langen Winter zu Ende, die Kinder schreien vor Hunger und Kälte.

Die Ältesten setzen sich zusammen, beratschlagen viele Stunden und entwickeln in dieser höchsten Not den Meisterplan. Sie würden aus dem Wolf durch Entführung und gezielte Selektion ein Wachtier züchten, das ihnen zukünftig dabei helfen würde, den Stamm vor nahenden Wolfsrudeln zu warnen. Die Aussicht darauf lindert sofort den Hunger, und ein paar Jahrhunderte später ist das Problem gelöst.

Etwas unrealistisch, oder?

Szenario 2:

Satt bis vollgefressen sitzen die Stammesmitglieder am Feuer und lauschen dem fernen Geheul der Wölfe, denen sie soeben fette Beute weggeschnappt haben. Ein einzelnes, verirrtes Wolfsbaby nähert sich hungrig und mit großen, ängstlichen Augen den Resten, die die Menschen nicht mehr haben essen können. Sei es aus Trägheit oder gar Mitleid, die Menschen lassen es gewähren. In der Folge bleibt das Wölflein in der Nähe, und irgendwann erkennen die Menschen, dass es immer, wenn fremde Wölfe in der Nähe sind, bellende Laute von sich gibt. Sie begreifen den Nutzen, sorgen dafür, dass auch in Zukunft immer mindestens ein junger Wolf in ihrer Nähe ist. Sie locken sie sogar mit gezielt liegen gelassenen Futterresten an.

Eine neue Ökonische ist entstanden, in der Wölfe dadurch überleben, dass sie ihr kleinkindliches Gebell auch als Erwachsene beibehalten.

Nicht mal ich bin alt genug, dabei gewesen zu sein, als die Menschen den Hund domestizierten, aber in meiner Fantasie ist es eher wie in Szenario 2 abgelaufen.

Nahe Vergangenheit

Die Sahelzone ist nicht nur aktuell wieder ein Krisengebiet, sie war es auch schon in meiner Kindheit. Sahelzone, dieses Wort war damals ein Synonym für ständige Dürren und Hungersnöte.

Indien hatte zu jener Zeit etwa halb so viele Einwohner wie heute, und von denen lebten ca. 80% in bitterster Armut.

Weder die Sahelzone, noch Indien, noch die anderen Armenhäuser des Planeten der 1970er Jahre waren die Innovationstaktgeber der Menschheit. Wer gerade so über die Runden kommt, der probiert nicht einfach mal schnell aus, ob es auch anders geht. Denn wenn es anders nicht geht, dann ist er tot.

Stattdessen war Kalifornien eines der Zentren der menschlichen Fortschrittskraft. Die Not war dort eher gering. Vielmehr herrschte dort Überfluss, und viele Kalifornier hatten kein schlechtes Gewissen, diesen Überfluss auszuleben.

Es scheint, dass eher Überfluss und Müßiggang die Quelle neuer Technologien sind. Warum ist das so? Zwei Gründe nenne ich.

1. Die Inspiration

Im Deutschen gibt es das schöne Wort Erfindung. Darin steckt das Verb finden, und das ist sehr zutreffend. Am Anfang einer Innovation steht etwas, das gefunden werden muss, das also bereits da ist, und uns nur noch nicht bekannt war. Eine neue Technologie (und auch der Hund ist im weiteren Sinn eine Technologie) kann man nicht einfach entwickeln, nur weil man sie dringend braucht. Sie werden da entwickelt, wo ein bisher unbekannter Natur-Mechanismus gefunden worden ist. Zum Zeitpunkt der Entwicklung weiß man oft noch gar nicht, wozu das später gut werden kann.

Wenn ich als Kreuzfahrt-Passagier aus Angst vor dem sicher scheinenden Schiffsuntergang von Bord springe, dann hilft es unter Umständen nichts, meine Suche nach einer nahen Insel zu intensivieren, bis ich eine finde. Große Not hilft mir nichts, wenn einfach keine Insel in der Nähe ist.

2. Die Transpiration

Das wäre schon schlimm genug, aber wie von Edison einst sinngemäß gesagt, ist die Intuition, also die Idee, das Finden, erst der Anfang. Danach kommt die harte Arbeit. Eine Idee ist noch lange keine Großserien-Technologie, mit der man Millionen Menschen beglücken kann.

Betrachten wir ein Beispiel aus nicht ganz so ferner Vergangenheit: Die Eisenbahn.

Die ersten Schienen waren aus Gusseisen, welches unter der Last häufig zerbröselte.

Über die CO2-Bilanz der frühen Dampfloks mag ich gar nicht nachdenken. Würden wir den heutigen Zugverkehr mit diesen Loks machen, bräuchten wir uns um den Klimawandel evtl. nicht mehr zu sorgen, weil die Erde längst durcherhitzt wäre. Oder die Rußwolken hätten die Sonne verdunkelt, und alles wäre erfroren. Ich weiß es nicht, ehrlich gesagt.

Entlang der Strecken brachen immer wieder durch Funken ausgelöste Feuer aus.

Züge fuhren im Zeitabstand. Das heißt: Die Fahrdienstleiter schickten einen Zug dann aufs Gleis, wenn sie glaubten, der vorausfahrende habe nun genügend Vorsprung. Blieb der wegen einer Panne oder sonst einem Grund liegen, kam es zu Auffahrunfällen, oft mit vielen Toten.

Die ersten Bahnlinien waren Verbindungen von Punkt zu Punkt mit einem Kopfbahnhof an jedem Ende.

Die Technologie Eisenbahn wurde trotz der zahlreichen Probleme weiterentwickelt. Die Gusseisen-Schienen wurden durch stählerne ersetzt. Die Dampfloks bekamen nicht nur Funkenfänger an den Schornsteinen oder in die Rauchkammern, sie wurden effizienter und später durch noch effizientere Diesel- und E-Loks ersetzt. Fahren im Zeitabstand wurde durch das Blocksystem mit ausgefeilten Semaphoren und Signaltechniken abgelöst.

Die Kosten an Zeit, Material, Umwelt und Menschen waren beträchtlich, aber es war leistbar, weil das System langsam wuchs. Die Gusseisenschienen wurden ersetzt, bevor man zig-Tausend Kilometer davon verlegt hatte. Von den ineffizientesten Dampfloks fuhren insgesamt nur so wenige, dass das Klima nicht sofort umkippte. Die Sicherheits-Vorschriften waren mit Blut geschrieben, aber sie wurden geschrieben, bevor der Blutzoll durch den gewachsenen Zugverkehr unerträglich geworden war.

Über manche Kopfbahnhöfe ärgern wir uns auch heute noch. Wir hätten noch viel mehr davon, wenn wir die Technologie Eisenbahn mit der Brechstange durchgesetzt hätten.

Die Entwicklung der Eisenbahn war teuer und langwierig, dabei war es der Gutfall. Immerhin haben wir jetzt eine Eisenbahn. Garantieren lässt sich sich der Erfolg einer neuen Technologie im Allgemeinen nicht. Wer den Versuch startet, eine Technologie zu erfinden und im großen Stil auszurollen, der geht eine hohes Risiko ein, dass am Ende nichts als verschwendete Ressourcen stehen. Deshalb werden neue Technologien in Gesellschaften entwickelt, die sich die Fehlschläge leisten können, ohne in Existenznot zu geraten.

Gegenwart und nahe Zukunft

Bei der Klimaneutralisierung unserer Energieversorgung gibt es noch, beschönigend ausgedrückt, Herausforderungen. Wir wollen im großen Stil auf nur zwei Energiequellen zurückgreifen, die nicht nur einen hohen Flächenbedarf und einen mittelalterlichen Erntefaktor haben, sondern zusätzlich eine Energiespeicherfähigkeit brauchen, die wir Stand 2023 nicht haben.

Ja, es gibt Ideen. Die meisten davon taugen allerdings nur zum Abdecken kurzer Lastspitzen für kleine Verbraucher. Zum Beispiel gibt es das Konzept, riesige Kunststoffblasen auf dem Meeresgrund auszulegen, diese in Zeiten des Energieüberschusses mit Wasser aufzufüllen, und die im Wasserdruck (genauer im Gewicht des um eine Winzigkeit angehobenen Wassers außerhalb der Blase) gespeicherte Energie dann über Turbinen zurückholen zu können. Stichwort Ocean Grazer bzw. deren Ocean Battery.1 Puuh! Mir scheint das ein extremer Aufwand für einen Unterwasser-Speicherstausee – oder sollte ich vom Stauweiher reden?

Eine Abschätzung der speicherbaren Energiemenge ist kein Hexenwerk. Baut man die Blase in z.B. 100 Meter Meerestiefe, dann hat man die Energiemenge eines Speicherstausees mit eben diesen 100 Metern Fallhöhe und dem Volumen der Blase. Hier ist von typisch 20.000 Kubikmetern die Rede, das wären etwa zehn Freibäder voll (50 Meter lang, 20 Meter breit, zwei Meter tief) Mithin ein winziges Speicherkraftwerk. Die Energiemenge darin könnte bei 40% Wirkungsgrad etwa meinen persönlichen Haushaltsstrom für ein Jahr decken.

A propos: Generell sind oberirdische Speicher-Stauseen eine etablierte Technik. Sie haben um Größenordnungen mehr Volumen als die Ocean Battery. Aber auch sie haben eine winzige Kapazität im Verhältnis zum Bedarf. Plausible Berechnungen zeigen, dass wir alleine für Deutschland das komplette Potenzial Norwegens bräuchten2. Für die Norweger würde es dann wohl auch noch reichen, aber wir haben doch ein globales Problem. Wie viele Norwegens brauchen die USA und China und wo finden sie die? Zur Erinnerung: Norwegen hat eine sehr spezielle Geografie, die wie für Speicherstauseen geschaffen ist. Mir ist jedoch nur ein einziges Norwegen bekannt. Aber vielleicht sind meine Atlanten veraltet.

Am realistischsten ist sicherlich der grüne Wasserstoff. Ignorieren wir mal den schlechten Wirkungsgrad und die Tatsache, dass man zur Erzeugung von grünem Wasserstoff meines Wissens schon eine konstante Energieversorgung benötigt (also das, was man eigentlich durch diese Technik erst erreichen will)

Dann bleibt für die aufzubauende Wasserstofftechnologie, wie auch für die Energie-Quellen Wind und Sonne das Problem, dass wir eigentlich Zeit bräuchten, diese langsam einzuführen. Die Einführung wird genau die Probleme hervorbringen, die auch die Eisenbahn hatte: Herstellungsprobleme, falsches Material an der falschen Stelle, Haltbarkeitsprobleme, Wirkungsgradprobleme, Umweltprobleme, Sicherheitsprobleme.

Jeweils zehn Jahre später werden wir wissen, wie es besser gegangen wäre, aber da wir im großen Stil eingestiegen sind, stehen wir dann vor einer Unmenge schlechter Gerätschaften, die kaputt gehen, die ineffizient arbeiten, die gefährlich sind. Wir werden sehr schnell nicht mehr die Ressourcen haben, all den Schrott umzurüsten oder auszutauschen. Zumal das, nebenbei gesagt, auch jedes mal klimaschädliche Gase erzeugt.

Fazit

Die Sache mit den Erfindungen und der Technologie-Entwicklung hat eine positive Rückkopplung. Hat eine Gesellschaft erst einmal ein paar Überschüsse errungen, kann sie durch die Entwicklung neuer Technologien, trotz der vielen unvermeidlichen Rückschläge, ihren Überschuss steigern, und damit noch mehr in Versuche investieren, neue Dinge zu erfinden. Irgendwann stoppen andere Effekte diesen schönen Trend.

Umgekehrt ist es ein Teufelskreis. Eine am Minimum angekommene Gesellschaft kann nicht mehr mit Ideen herumspielen, von denen die Mehrheit nicht funktionieren wird. Stattdessen wird sie vermutlich darauf setzen, so viele Kinder zu gebären, dass wenigstens pro Familie ein oder zwei ins gebärfähige Alter kommen. Sie wird permanent auf diesem Niveau von Not und Elend verharren.

Der Vorschlag, doch erst mal die bestehenden Probleme zu lösen, bevor man sich dem kurzfristig Unnötigen, gar dem Müßiggang, hingibt, ist ehrenwert und alt. Schon in meiner Kindheit versuchten besorgte Erwachsene, mir die Faszination für Raumfahrt zu vergällen, indem sie penetrant darauf hinwiesen, welch unsägliche Verschwendung es doch sei, Menschen für viel Geld zum Mond fliegen zu lassen, während in Afrika jedes Jahr Millionen Kinder verhungerten. Man solle erst mal die Probleme auf der Erde lösen, ehe man nach den Sternen greift.

So funktioniert es aber nicht. Man kann nicht mit Gewalt die Probleme lösen, die man lösen möchte, weil sie besonders dringend scheinen. Nicht überall, wo man sucht, findet man auch etwas. Man kann lediglich an den Stellen, wo etwas gefunden wurde, versuchen, daraus eine neue Technologie zu entwickeln, mit der sich dann, völlig unverhofft, Probleme lösen lassen, an die zunächst gar nicht gedacht wurde. Das braucht aber nicht nur Geld und guten Willen, sondern viel Zeit.

Ich fasse zusammen:

  • Not macht nicht erfinderisch, Not verhindert im Gegenteil Erfindungen und das Weiterentwickeln zu neuen Technologien
  • Die gewaltsam schnelle Einführung von Technologien wird genau zu dieser Not führen.

Fußnoten

  1. https://oceangrazer.com/ ↩︎
  2. Z.B. so: Gemäß INES beträgt die Energiespeicherkapazität aller deutschen Gasspeicher 250 Terawattstunden. Das entspricht der potenziellen Energie von ca. 80 Kubikkilometern Wasser in einem Kilometer Höhe! Und diese Energiemenge reicht bekanntlich nicht, um uns über einen Winter zu bringen. ↩︎
Was ist eine Erfindung?

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